Enn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, würde es vielleicht doch keinem einfallen zu fragen, warum die Welt da sei und gerade diese Be schaffenheit habe, diese Worte Schopenhauers, welche die beiden natürlichen Quellen für die Entstehung der Philosophie überhaupt aufdecken, beleuchten viel leicht besser als irgendwelche anderen die Entstehung der Selbstbetrachtungen Marc Aurels. Denn kaum ein zweites Werk der antiken Philosophie wurzelt so tief in der Persönlichkeit des Autors, in der schmerz lich leidenden Seele einer vornehmen Denkematur, die durch des Geschickes Laune auf den römischen Kaiserthron berufen ward. Es ist müßig, sich dar über Gedanken zu machen, wie Marc Aurels Philo sophie ausgefallen wäre, hätte dieser Mann gleich anderen bedeutenden Geistern des Altertums sein Leben in stiller Beschaulichkeit oder als Lehrer der Philosophie hinbringen können, aber man darf doch wohl vermuten, daß es dann niemals die köstliche Frucht der Selbstbetrachtungen, wie sie uns jetzt vor liegen, gezeitigt hätte, oder doch, daß dieses Werk dann nicht so lebendig und unvergänglicher Wahrheiten voll ausgefallen wäre. Aus den täglichen kurzen Aufzeichnungen, denen man mit einiger Phan tasic beinahe „heute noch den Anlaß ihrer jeweiligen Entstehung ansehen kann, wäre vielleicht ein mehr oder minder fein ausgearbeitetes System geworden, um so uninteressanter für uns, je ärmer es an neuen, grundlegenden Gedanken geblieben wäre; die Philo sophen und Philologen würden es registrieren neben manchem anderen mittelmäßigen Werk der antiken Literatur, für den weiteren Kreis der Gebildeten aber hätte es kaum noch ein Interesse. Allein all das kam anders. Denn der Philosoph Marc Aurel war zu gleich römischer Kaiser! Nicht in der einsamen Studierstube, nicht im anregenden Gespräch mit Gleichdenkenden, nein mitten im wogenden Getriebe des römischen Kaiserreichs reifte die Gedankensaat heran, die eine frühe Beschäftigung mit den besten Philosophen des Altertums in den überaus empfängo lichen Geist Marc Aurels gepflanzt hatte. So bekamen wir statt einer toten systematischen Darstellung eine Art Memoirenwerk, aber keines, das sich in der Dar stellung vergänglicher äußerer Tatsachen wie Schlachten und Kriege ergeht, sondern ein Bekenntnis, welches das Geistesleben eines interessanten Menschen ento hüllt, der gelitten hat wie wir, der des Lebens Rätsel zu ergründen gesucht hat wie wir und der sich einen inneren Frieden errungen hat, wie wir ihn trotz des Christentums nur sehr selten finden. Darin besteht die ewige Frische der Marc Aurelschen Selbst betrachtungen, das ist der Grund, warum sie, wie Emest Renan sagt, niemals veralten. Sie sind nichts Abgeschlossenes, sie zeigen vielmehr die Menschenseele in der Werkstatt ihres Schaffens, und was sie dort unter schweren Mühen keuchend, doch auch in sieghafter Schöpferfreude jubelnd sich erarbeitet, was ist's eigentlich im letzten Grunde? Das Urphänomen aller Philosophie, wie wir sehen werden, „die abso lute Religion, wie Renan hymnisch-überschwenglich sagt, „welche ausgeht von der einfachen Tatsache eines hohen, moralischen Bewußtseins, das der Welt gegenübergestellt ist.
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