Das Jahr 1903 ist das Geburtsjahr der modernen Charakterologie: Im Mai dieses Jahres hat Otto Weininger sein Werk Geschlecht und Charakter veröffentlicht. Das Licht scheinet in der Finsternis und die Finsternis hats nicht be griffen. Die Zunft schwieg.Weininger fuhr nach Italien. Er wartete. Kein Wort der Anerkennung, keine ernste, gerechte stimme über das Buch kam aus der Heimat. Rührend, erschütternd sind die Stellen seiner Briefe, in denen dies unerfüllt gebliebene Sehnen Ausdruck fand.Vier Monate nach dem Erscheinen des Buches tötete er sich durch einen Revolverschu Bins Herz. Da ward es plötzlich offenbar: Eine Gemeinde war ihm erstanden, gewillt, Zeugenschaft für ihn abzulegen. Friedrich Jodl grüBte das Werk durch den Ausspruch, dalz in der Diskussion über die Psychologie der Geschlechter dieses Buch nie mehr werde übergangen werden. Weininger hat diese Genugtuung nicht mehr erlebt.Geschlecht und Charakter erzielte binnen kurzer Zeit eine so hohe Auflagenziffey wie schon lange kein wissenschaftliches Werk, eine beträchtliche Anzahl von Broschüren erschien, eine ganze Weininger-Literatur bildete sich. All diese Schriften, die Weiningers Werk und frühen Tod dem Verständnis weiterer Kreise erschlieBen wollten, brachten wohl eine Menge theoretischer Weisheit; auf die Frage nach dem Menschen Weininger blieben sie die Antwort schuldig.
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